Ring-Vorlesung: Storytelling: Erzählen als Medium der Weltwahrnehmung und Weltgestaltung
Erzählen gehört zu den elementarsten und selbstverständlichsten Praxen der menschlichen Weltwahrnehmung und Weltgestaltung und bleibt dabei doch immer auch kulturspezifisch. Dementsprechend durchziehen Erzählungen – teils auch unerkannt – sämtliche Bereiche vergangener und heutiger Lebenswelten. Weit vor dem bekannten Sonderfall des literarischen Erzählens fängt dies bereits bei konversationellen Alltagserzählungen an „Du glaubst nicht, was mir gestern passiert ist …“ und geht über das identitätsstiftende biographische Erzählen von Individuen bis hin zu den großen Narrativen kultureller Kollektive jeglichen Zuschnitts – Verschwörungsgeschichten inklusive. Auch aus entwicklungs- und kognitionspsychologischer Perspektive scheint personale Identität weitestgehend narrativ verfasst.
Erzählen ist dabei an kein spezifisches Medium gebunden. Erzählt wird nicht nur mündlich oder schriftlich, sondern gleichermaßen in Bildern und in Filmen genauso wie in digitalen Spielen, im Theater oder in der Musik. So vielfältig die Formen des Erzählens sind, so vielfältig sind auch die kontextspezifischen Funktionen, die mit dem Erzählen von Geschichten verknüpft werden. Erzählt wird im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Re-Konstruktionen von Ereignissen, im Plädoyer vor Gericht, bei der Markteinführung neuer Produkte, selbst die Präsentation naturwissenschaftlicher Daten folgt häufig narrativen Schemata.
Zunehmend deutlicher tritt in letzter Zeit die besondere Bedeutung des Erzählens bei der Interpretation zeitgeschichtlicher Ereignisse in den Vordergrund. Zur Erklärung ein und desselben Geschehens konstruieren Akteur*innen je nach Interessenlage konkurrierende Erzählungen. Die Kompetenz, die interessengleitete Konstruktion von Geschichten verstehen und analysieren zu können, dürfte daher neben allem anderen besonders für die demokratische Gestaltung politischer Diskurse von hoher Zukunftsrelevanz sein.
Veranstaltungsdetails
Zeit: Mittwoch, 18:30 - 20:00
Orte:
6.3.: Hörsaal I NIG Erdgeschoß, Universitätsstraße 7, 1010 Wien (Gebäudeplan)
alle weiteren Termine: Audimax, Universitätsring 1, 1010 Wien
26.6. (Prüfung): Hörsaal I NIG Erdgeschoß, Universitätsstraße 7, 1010 Wien
Angaben in u:find
Programm
06. März
Erzählen gegen den Tod im pharaonischen Ägypten und im deutschen Mittelalter
20. März
Uta Heil (Evangelische Theologie)
Katastrophen- und Krisenbewältigung – Zur Narration von Bedrohungsszenarien in biblischen und christlichen Texten
17. April
Katharina Gartner (Afrikanistik)
We are all together. Zeitgenössisches Oral Storytelling als intergenerationelle, kreative und musikalische Praxis in verschiedenen Regionen Afrikas
24. April
Claus Tieber (TFM)
Das Drehbuch als Grundlage der narrativen Struktur audiovisueller Erzählungen
Günther Stocker (NDL)
Perspektivenstrukturen in literarischen Erzählungen
15. Mai
Waltraud Kolb (Translationswissenschaft)
Maschinenübersetzung und Postediting narrativer Texte
22. Mai
Philipp Scheibelreiter (Römisches Recht und antike Rechtsgeschichte)
Erzählung als Sachverhaltsdarstellung einer Prozesspartei
Paul Oberhammer (Zivilverfahrensrecht)
Behaupten, Beweisen, Entscheiden: Beobachtungen zum Storytelling vor Zivilgerichten
29. Mai
Christiane Maria Losert-Valiente Kroon (Physik) und Katharina Pallitsch (Organische Chemie)
Anwendungsorientierte Wissenschaftsvermittlung im konstruktivistischen Dialog
Florian Mayrhofer (Katholische Theologie)
Digital Storytelling im religionspädagogischen Kontext
19. Juni
Niku Dorostkar (Game Lab & KPH Wien/Krems)
Spielend erzählen. Interaktive Narration und Identitätskonzepte in digitalen Spielen
26. Juni
LV-Prüfung