Humanität und Humanities: Herausforderungen für Wissenschaft und Kultur im Zeichen von Krieg und Krisen – Kulturerbe, Netzwerke, Kommunikation
Im Rahmen von zwei Vortragspanels und einem Runden Tisch werden die zentralen Herausforderungen, die der Krieg in der Ukraine für die Humanities mit sich bringt, vorgestellt und diskutiert. Ausgehend vom Beispiel der ukrainischen Universität Tscherniwzi/Czernowitz, dessen Hauptgebäude zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, setzt sich das Symposium mit Fragen zur digitalen Transformation im Kulturgutschutz, zum humanitären, zivilgesellschaftlichen Engagement auf Basis wissenschaftlicher Netzwerke und zur Positionierung von Forschenden im öffentlichen Diskurs zum Krieg in der Ukraine auseinander. In den Fokus rücken Aspekte eines gemeinsamen zentraleuropäischen Kulturerbes, der Leistungs- und Anpassungsfähigkeit von akademischen Netzwerken und der professionellen Wissenschaftskommunikation.
Zeit: 8. Mai 2023, 10–15 Uhr
Ort: Universität Wien, Sky Lounge, Oskar Morgenstern-Platz 1 (12. Stock)
Anmeldung (bitte bis 2.5.2023)
Kontakt und Rückfragen: Dr. Florian Kührer-Wielach
Programm
10:00–10:15 | Begrüßung
Christina Lutter, Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien
Tamara Marusyk, Vizerektorin der Universität Czernowitz/Tscherniwzi
Jannis Panagiotidis, Scientific Director des Research Center for the History of Transformations (RECET)
10:15–11:15 | Panel 1 | Ein Mythos macht mobil: Das Beispiel der Universität Tscherniwzi/Czernowitz
Moderation: Kerstin Jobst (Wien)
Florian Kührer-Wielach (IKGS München)
Einführung: Akademische Kooperation, humanitäre Hilfe und Kulturgutschutz im zentraleuropäischen Beziehungsgeflecht
Robert Born (BKGE Oldenburg)
Die „Residenz“ – Genese und transregionale Bedeutung eines Weltkulturerbes
Tamara Marusyk (Universität Tscherniwzi)
Von Franz Josef bis Jurij Fedkowytsch: Der Weg zum UNESCO-Weltkulturerbe
11:30–12:45 | Panel 2 | Rückzug in die Cloud? Kulturgutschutz und die digitale Transformation
Moderation: Thomas Wallnig (Wien)
Olena Balun (Freie Kuratorin, Rosenheim)
Die Arbeit des Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine/Ukraine Art Aid Center
Gudrun Wirtz (Bayerische Staatsbibliothek München)
Was geht digital? Kulturgüterrettung im Angesicht des Krieges gegen die Ukraine
Anna Maria Kaiser (Donau-Universität Krems)
Risikomanagement für Kulturgüter
12:45–13:30 Mittagspause mit Imbiss
13:30–15:00 | Round Table | Zwischen Haltung und Zurückhaltung – Die Rolle der Humanities im öffentlichen Diskurs
Moderation: Florian Kührer-Wielach (München)
Franziska Davies, Historikerin, Ludwig-Maximilians-Universität München
Judith Kohlenberger, Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin, Wirtschaftsuniversität Wien
Oxana Matiychuk, Kulturmanagerin, Publizistin und Germanistin, Universität Tscherniwzi/Czernowitz
Irena Remestwenski, Managing Director RECET / ScienceForUkraine Österreich
Philipp Ther, Director RECET, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien
Veranstalter
- Historisch-kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien
- Research Center for the History of Transformations (RECET)
- Nationale Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi/Czernowitz
- Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS)
in Zusammenarbeit mit:
- Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien
- Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Oldenburg (BKGE)
- OeAD-Kooperationsbüro Lviv/Lemberg
- Ukraine Office Austria (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten)
- Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine/Ukraine Art Aid Center (Deutsch-Ukrainische Gesellschaft für Wirtschaft und Wissenschaft e.V., Mainz/Berlin/Kiew)
- Südosteuropa-Gesellschaft – Zweigstelle Wien
Konzept
Kulturerbe, Netzwerke, Kommunikation
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Geistes- und Sozialwissenschaften vor eine Reihe von Herausforderungen. Kulturgutrettungs- und Sicherungsprojekte wie auch Initiativen zur humanitären Hilfe werden aus einer Gemengelage zwischen wissenschaftlichen, formalisierten Kooperationen und individuellen, informellen Kontakten realisiert. Sie sind somit an der Schnittstelle von akademisch-professionellem und humanitär-ehrenamtlichem Engagement zu verorten und weisen eine Mischung aus „typischen“, etablierten Strukturen und einen für die akademische Welt eher ungewöhnlichen Grad der Improvisation auf, die zu einer speziellen Form netzwerkbasierter Selbstorganisation geführt hat. Gleichzeitig finden sich Stimmen aus den Humanities verstärkt in erklärenden und beratenden Rollen wieder – Wissenschaftskommunikation wird Teil einer öffentlichen Krisenkommunikation. Auf all diesen Ebenen erhält die bereits in der Covid-Pandemie in den Fokus gerückte digitale Transformation neuen Antrieb. Ausgehend vom Beispiel der Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi/Czernowitz werden diese emergenten Prozesse nachgezeichnet, reflektiert und in größere Zusammenhänge eingebettet. Drei eng miteinander verbundene Themenkomplexe werden diskutiert:
Kulturgutschutz und Digitalisierung
Schutz und Rettung von materiellen Kulturgütern haben im vergangenen Jahr eine in Europa seit Jahrzehnten kaum gekannte, praktische Dringlichkeit erlangt. Die akute Bedrohung von Kunstwerken, Denkmälern und Archivgütern rückt die Bedeutung der digitalen Transformation für ihre Sicherung in den Fokus. Ihre Virtualisierung ergänzt die traditionellen Schutzmaßnahmen für die Originale vor Ort, eröffnet aber auch Möglichkeiten der Nachnutzung jenseits der akuten Sicherstellungsintention. Welche Chancen bieten sich aufgrund dieser Entwicklung, welche vorläufigen Schlüsse lassen sich aus der Praxis ziehen?
Netzwerkbildung und humanitäre Hilfe
Akademische Beziehungen haben kriegsbedingt im vergangenen Jahr eine besondere humanitäre Dimension hinzugewonnen: umgehend nach der russischen Invasion im Februar 2022 wurden Hilfsaktionen ins Leben gerufen, die auf etablierten wissenschaftlichen Netzwerken aufbauen und direkt vor Ort, in den vom Krieg betroffenen Gebieten wie auch für die Geflüchteten wirksam werden. Das Engagement von Wissenschaftler:innen entfaltet in Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen ein breites Tätigkeitsspektrum, das von der akuten Versorgung mit lebenswichtigen Konsumgütern bis hin zur Kulturarbeit von und mit mittelbar und unmittelbar vom Krieg Betroffenen reicht. Was lässt sich aus diesen Prozessen für die zukünftige Rolle von akademischen Institutionen ableiten?
Wissenschaftskommunikation und Subjektpositionen
Im öffentlichen Diskurs zum Krieg gegen die Ukraine wird Expertise aus den Humanities verstärkt nachgefragt. Zielgerichtete und der Situation angepasste Wissenschaftskommunikation gewinnt an Bedeutung, sie muss sich zunehmend auch in Krisensituationen behaupten. Soziale Medien intensivieren den Austausch mit einer breiten Öffentlichkeit, der Diskurs zeigt sich offener, aber auch erratischer. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Subjektposition von Wissenschaftler:innen: Inwieweit lassen sich Expertise und Engagement, sachliche Analyse und Positionierung, vereinbaren?
Panel 1: Ein Mythos macht mobil – Das Beispiel der Universität Tscherniwzi/Czernowitz
Nach einer Einführung in die grundsätzlichen Fragestellungen des Symposiums werden diese am Beispiel der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi/Czernowitz konkretisiert. Diese pflegte, 1875 als Franz-Josephs-Universität in der Hauptstadt des Kronlands Bukowina gegründet, bis 1918 engste akademische Verbindungen zur Universität Wien. Nach 1918 zu Rumänien gehörend, fiel der nördliche Teil der Bukowina mit seiner Hauptstadt Czernowitz im Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion und wurde 1991 Teil der unabhängigen Ukraine. Seit 1955 fungiert die ehemalige Residenz des griechisch-orthodoxen Metropoliten als zentraler Campus und Verwaltungssitz der Universität. Das von Josef Hlávka entworfene Backsteinensemble zählt seit 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Insbesondere seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat die Universität ein internationales, vor allem in den deutschsprachigen Raum wirkendes Kooperationsnetzwerk aufgebaut, das in der aktuellen Situation vor allem für kriegsbedingte Hilfsaktionen aktiviert wurde. Welche Rolle spielt dabei die langfristige internationale, institutionelle und persönliche Beziehungspflege zwischen den akademischen Einrichtungen? Wie wird, mit Blick auf das gemeinsame zentraleuropäische Erbe der Habsburgermonarchie, auf Basis von historischen, zuweilen auch vorwissenschaftlichen (sentimentalen) Argumenten – Stichwort „Mythos Czernowitz“ – für diese Kooperationen geworben? In welcher Weise spielt das historische Erbe der Bukowina – grenzüberschreitendes Regionalbewusstsein, eine Tradition der Mehrsprachigkeit und Multikulturalität – eine Rolle?
Panel 2: Rückzug in die Cloud? Kulturgutschutz und die digitale Transformation
Aufbauend auf dem Beispiel der Universität Czernowitz wird im Panel 2 der konkrete Nutzen der digitalen Transformation für den akuten und den langfristigen Kulturgutschutz in Europa diskutiert: es werden die Tätigkeiten des international wirkenden „Netzwerks Kulturgutschutz Ukraine“ sowie der Beitrag zu den digitalen Sicherungsmaßnahmen im ersten Kriegsjahr am Beispiel einer Bibliothek, die eine Vorreiterrolle einnimmt, vorgestellt und diskutiert. Das Thema Risikomanagement für Kulturgüter wird in einen geografisch und thematisch größeren Rahmen gestellt und die Perspektive über die akute Situation in der Ukraine hinaus auf andere Krisensituationen erweitert. Es werden verschiedene Bedrohungsszenarien für materielle Kulturgüter skizziert (bewaffnete Konflikte, Naturereignisse, Kunstraub etc.) und der Beitrag der Digitalisierung, um ihnen zu begegnen, vorgestellt.
Round Table: Zwischen Haltung und Zurückhaltung – Die Rolle der Humanities im öffentlichen Diskurs
Im Rahmen des Round Table wird, aufbauend auf die beiden Vortragspanels, die Perspektive auf die sich angesichts von Krieg und Krisen stellenden kommunikativen und ethischen Herausforderungen für Wissenschaftler:innen erweitert. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Beitrag der Humanities, diesen Herausforderungen zu begegnen und den Grenzen, die sie sich dabei setzen müssen oder sollten: Forschende und Lehrende beteiligen sich beobachtend und erklärend und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Einordnung von krisenhaften Entwicklungen und Ereignissen. Diese Form der Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Diskurs führt jedoch auch dazu, dass Expert:innen über die fach- und forschungsbasierte Analyse hinaus zu wertenden Urteilen kommen bzw. gelegentlich kommen müssen. Darüber hinaus weisen wissenschaftliche und persönliche Netzwerke naheliegende Überschneidungen auf – im Kriegs- und Katastrophenfall Hilfe zu leisten, liegt somit nahe.
Wie aber finden humanitäres Engagement und Humanities zusammen, ohne sich einen „Bias“ vorwerfen lassen zu müssen? Wo ist eine Abgrenzung zwischen wissenschaftlicher Analyse und persönlicher Meinung – manchmal auch gegen die nachvollziehbaren Reflexe der Betroffenheit – nötig? In welcher Situation dürfen Wissenschaftler:innen trotzdem Partei ergreifen? Wie gehen Institutionen bzw. ihre Führungskräfte mit dieser Ambivalenz um? Wie funktioniert gelungene Wissenschaftskommunikation in diesem Spannungsfeld zwischen ethischer Haltung und wissenschaftlicher Zurückhaltung und welche Rolle spielen die Sozialen Medien?
Aus ukrainischer Sicht, angesichts der unmittelbaren Bedrohung, erscheinen die Fragen noch dringlicher: Wie lässt sich in der akuten Extremsituation eines Krieges, dessen Auswirkungen einen Menschen direkt betrifft, ein Rest von wissenschaftsbasierter Distanz und Reflexion wahren? Wie funktioniert die „Neubewertung“ von Kulturerbe und kulturellen Beziehungen unter solchem Druck? Müssen manche Denkmäler – materielle wie immaterielle – zwangsläufig stürzen?